#5: Lang und zufrieden leben durch ... soziale Verbundenheit
- Matthias Rainer
- 26. Apr. 2024
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Mai 2024
Inhalte:
1. Lang und zufrieden Leben
Die Harvard-Studie 'Harvard Study of Adult Development' läuft seit 1938 und hat die Leben von hunderten von Menschen über mehrere Generationen haarklein dokumentiert und viele viele Fragen zu den verschiedensten Themen gestellt. Das Ziel ist herauszufinden, was uns Menschen ein gutes und erfolgreiches Leben führen lässt. Die vorläufige Antwort, die die Zusammenfassung jahrzehntelanger sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit ist, könnte nicht eindeutiger sein:
Gute soziale Beziehungen

2. Beziehungen helfen, Bedürfnisse zu befriedigen.
Zufriedenheit ist eng verbunden mit der Befriedigung von Bedürfnissen (siehe dazu auch Blog-Post #3). Das soziale Umfeld kann uns dabei helfen, die für uns wichtigen Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu zählen unter anderem körperliche Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Wertschätzung und Selbstverwirklichung.
Oft sind mit der Befriedigung von Bedürfnissen oder mit dem Leben allgemein Herausforderungen verbunden, die wir mit der Unterstützung unseres sozialen Umfelds besser bewältigen können.
Hier sind einige Beispiele dafür, auf welche Weise uns Freunde und Familie im Idealfall unterstützen können…
Emotionale Unterstützung (zuhören, Verständnis zeigen, Trost spenden)
Praktische Hilfe (Haushalt, Einkäufe, Kinderbetreuung)
Beratung und Ratschläge
Finanzielle Unterstützung
Netzwerke und Ressourcen (Zugang zu Kontakten und Möglichkeiten)
Die Unterstützung unseres sozialen Universums kann also dazu beitragen, dass...
wir den Alltag besser bewältigen,
für uns persönlich wichtige Bedürfnisse befriedigen und
mögliche Ziele besser, schneller oder überhaupt erreichen können.

3. Beziehungen helfen, Stress zu reduzieren.
Das Gefühl, dass wir nicht alleine mit unseren Herausforderungen, Problemen und Krisen sind, hat auch Einfluss darauf, wie gestresst wir uns fühlen.
Gute soziale Beziehungen können unseren Stress reduzieren und dadurch lebensverlängernd wirken.
Chronischer Stress kann dagegen mit einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen verbunden sein, darunter Herzkrankheiten, Bluthochdruck und einem geschwächten Immunsystem. Als Quelle emotionaler Unterstützung können gute soziale Beziehungen helfen, Stress zu reduzieren und so mögliche negative Auswirkungen abfedern.
Beispielsweise wurde in wissenschaftlichen Experimenten bestätigt, dass Händchenhalten mit einer (vertrauten) Person während einer ärztlichen Behandlung wie ein mildes Schmerzmittel wirken kann.
4. Beziehungs-Check: Wie gut sind unsere Beziehungen?
Wie sich Beziehungen auf unser Leben auswirken, hängt von zwei Dingen ab...
Häufigkeit
Qualität
Um herauszufinden, wie es um unsere Beziehungen steht, können wir uns fragen, ob uns unsere Beziehungen eher Energie geben oder rauben (Qualität), und wie häufig das vorkommt (Häufigkeit). Sollten wir unsere Beziehungen verbessern wollen, können wir versuchen an diesen beiden Schrauben zu drehen.
Beziehungen & Häufigkeit: …unsere Zeit ist begrenzt.
Wie gesagt, hat unser soziales Umfeld nachweislich einen großen Einfluss auf unser geistiges und körperliches Wohlbefinden - im Guten wie im Schlechten. Wir können zwar nicht ändern, dass das so ist, aber wir können bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden, mit wem wir unsere Zeit verbringen wollen und wer es ist, der uns ‚formt‘.
Wie viel Zeit verbringst du mit für dich wichtigen Personen? Manchmal ist es weniger als wir glauben. Nehmen wir an, mein bester Freund und ich würden 100 Jahre alt werden und uns weiterhin nur rund 4 Tage im Jahr sehen, was mit zunehmendem Alter sicher schwieriger bis unmöglich wird. Wir kämen dann auf insgesamt 252 Tage. Das sind ein bisschen mehr als 8 Monate. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren wären es nur mehr 172 Tage oder rund 6 Monate.
Krass wird es, wenn ich die verbleibende gemeinsame Zeit mit meinem Vater berechne, der bereits auf den 90er zusteuert. Selbst wenn er 100 Jahre alt werden sollte (und ich hoffe, er schafft es und noch mehr), wären es in diesem Fall nur mehr noch ca. 48 Tage. Schockierend!
Das ist eine einfache Kalkulation, die uns bewusst machen soll, wie wenig/viel gemeinsame Zeit wir manchmal eigentlich mit bestimmten Personen haben und vielleicht auch hilft, bessere Prioritäten zu setzen.
Auch uns als Familie ist bewusst geworden, dass die gemeinsame Zeit mit der weiteren Familie und (alten) Freunden schmerzlich begrenzt ist. Ganz sicher ein Grund dafür, warum wir schon vor einem Weilchen beschlossen haben, für längere Zeit nach Österreich zurückzukehren.
Es ist nicht eine Beziehung zu einer bestimmten Person, die alles (Sicherheit / Wachstum / emotionale und körperliche Nähe / Unterstützung / Spaß und Entspannung) abdecken muss; sondern es können viele Personen sein, die helfen, unser Bedürfnis auf soziale Verbundenheit zu befriedigen.
Auch freundliche Kontakte zu wenig Bekannten oder Unbekannten können einen zusätzlichen Energieschub geben. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommt ein Experiment, das die Wirkung von sozialen Interaktionen auf dem Weg zur Arbeit (in der U-Bahn) untersucht hat.
Beziehungen & Qualität: Gegenseitigkeit und Aufmerksamkeit
Überraschend ist auch, dass Personen mittleren Alters tendenziell zufriedener sind als ihre jüngeren Zeitgenossen. Das könnte daran liegen, dass ab einem gewissen Alter vor allem (gute) Beziehungen und das 'der Gesellschaft oder dem Umfeld zurückgeben wollen’ in den Vordergrund rücken.

Aber warum ist das so? Personen mittleren Alters haben die Macht von Generativität entdeckt. Dabei geht es darum, andere - vor allem die jüngeren Generationen - zu unterstützen, in welcher Form auch immer. Vielleicht ist das vergleichbar mit dem Schenken: Oft macht es glücklicher, jemanden etwas zu schenken als selbst beschenkt zu werden.
'Man erntet, was man sät' heißt ein bekanntes Sprichwort. Das passt auch für Beziehungen ganz gut, die ja keine Einbahnstraße sind. Erhofft man sich etwas Bestimmtes aus Beziehungen, ist es sicherlich keine schlechte Idee, selbst mit dem Geben zu beginnen. Das ‚Geben‘ von mehr Aufmerksamkeit, Geduld oder Wertschätzung kann dazu führen, dass wir davon auch mehr zurückbekommen. Wir haben keinen Anspruch darauf, aber es ist ein guter Anfang. Gerade Kinder sind schnell im übernehmen von Verhaltensweisen ihres Umfelds. Je nachdem was wir uns von oder für unsere Kinder wünschen, können wir versuchen, uns selbst so zu verhalten.
Vorbild zu sein, hat eine starke Wirkung, auch wenn es etwas dauern kann bis man Resultate sieht. Das ist vergleichbar mit einem Witz, bei dem man Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre auf das Lachen wartet.
Laut der Philosophin Simone Weil ist „Aufmerksamkeit die seltenste und reinste Form von Großzügigkeit.“ Unsere Zeit scheint insgesamt, aber auch Tag für Tag, eher knapp bemessen zu sein. Es mag nicht selten vorkommen, dass wir beim Erfüllen unserer ‚Verpflichtungen’ darauf vergessen, Zeit in Form von Aufmerksamkeit in unsere Beziehungen zu investieren. Das wäre allerdings großzügig und würde dazu beitragen, dass sich das Gegenüber geschätzt, respektiert, vielleicht sogar geliebt fühlt. Indem wir Aufmerksamkeit schenken, zeigen wir Interesse an Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen unserer Mitmenschen. Das fördert eine gesunde Kommunikation und kann auch Beziehungen stärken. Wenn Aufmerksamkeit fehlt, können Missverständnisse entstehen, das Vertrauen beeinträchtigt werden und Beziehungen leiden.
Aufmerksamkeit beinhaltet vieles, aber besonders wichtig, herausfordernd und effektiv ist gutes Zuhören. Seinem Gegenüber seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, ist eines der größten Geschenke, die man machen kann. Es ist aber nicht leicht, denn meistens reden wir lieber als wir zuhören.
Es gibt allerdings auch professionelle Zuhörer, die eine spezielle Art des Zuhören anwenden und das hat einen guten Grund. Dazu zählen Coaches, InterviewerInnen, PsychotherapeutInnen oder auch VerhandlerInnen. Wenn Sie mit ihrem Gegenüber kommunizieren, geht es unter anderem darum, möglichst rasch Vertrauen aufzubauen, Spannungen zu entschärfen oder wichtige Details zu erfahren. Eine Technik, die dafür verwendet wird, ist das ‚wiedergebende Zuhören‘. Es wird dabei in anderen Worten wiedergegeben oder zusammengefasst, was die andere Person gesagt hat, um zu zeigen, dass man es verstanden hat. Dabei ist es absolut in Ordnung, anderer Meinung zu sein. Wichtig ist, dass sich die andere Person verstanden fühlt. Geben wir es falsch wieder, was immer wieder vorkommt, kann die/der andere nochmals genauer erklären, was gemeint war. Diese Technik kann helfen, unsere Kommunikation weiter zu verbessern, was all unseren Beziehungen zu Gute kommen kann.
Wir sollte uns auch bewusst sein, dass fast jede Situation positive, neutrale und negative Elemente aufweist. Es kann vorkommen, dass sich unsere Kommunikation auf die negativen ‚5 % der Situation‘ konzentriert; oder wir etwas Schönes erleben und vergessen, dafür unsere Dankbarkeit auszudrücken. Wenn die Partnerin/der Partner einen Kuchen bäckt, ist es natürlich in Ordnung, ein gut-gemeintes Feedback zu geben (z.B. wenn etwas Zucker fehlt), aber vor allem die Wertschätzung für die liebevolle Geste soll in Erinnerung bleiben. Es kostet nichts und kann sehr effektiv sein.
Kann man sich Kommunikation wie einen Boomerang vorstellen? Auch wenn es etwas dauern kann, kommt er zum Werfenden zurück.

5. Beziehungen & negative Emotionen: Das A und O
Hast du schon einmal ein Update bei deinem Handy oder Computer gemacht? Eigentlich eine ziemlich unnötige Frage, denn es gibt vermutlich wenige, die noch keines gemacht haben. Wie wäre es, wenn unsere Computer noch mit dem ersten Windows, Mac oder Linux Betriebssystem laufen würden? Software wird stetig weiterentwickelt, was uns das Leben immer mehr erleichtert. Immer bessere Updates ergeben sich durch das Beheben von Fehlern.
Mindset updaten: Die positive Seite von negativen Emotionen
Was ‚Fehler‘ für die Softwareentwicklung sind, können negative Emotionen für die persönliche Entwicklung sein. Sie können uns helfen, zu einer immer besseren Version zu werden. Hier ist es möglicherweise umgekehrt - wie viele haben wirklich schon ein Update des eigenen Betriebssystems / Mindsets gemacht?
Wir können Emotionen als Signale sehen, die uns wie ein Metall-Detektor anzeigen, wenn wir uns einem gewünschten Zustand (z.B. Zielen oder wichtigen Werten etc.) nähern oder davon entfernen. Negative Emotionen können zu Großartigem führen, weil sie uns aufzeigen, wo noch Raum für Verbesserung ist. Sie sind ‚Textmarker des Lebens’, die markieren, was wichtig sein könnte.
Wir sollten uns nicht damit verrückt machen, jeder negativen Emotion nachspringen zu wollen, aber es macht durchaus Sinn, wiederkehrende negative Empfindungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht ist das vergleichbar mit dem Lesen Fremdsprachiger Texte: Gehen wir jedem unbekannten Wort nach, kommen wir nicht vom Fleck und das Lesen macht möglicherweise weniger Spaß, als wenn wir uns vor allem auf die wichtigeren wiederkehrenden Vokabeln konzentrieren. Natürlich gibt es auch immer wieder einzelne Wörter (oder negative Emotionen), die unsere vollste Aufmerksamkeit erfordern, weil sie der Schlüssel zum Verstehen des gesamten Textes sind.
E wie Emotion oder Eskalation: Beziehungen und die Rolle von Vernunft
Auch und vor allem in Beziehungen und sozialen Interaktionen können (wiederkehrende) negative Emotionen ein Signal für etwas sein, das für uns (noch) nicht funktioniert und näher untersucht werden sollte.
Im Allgemeinen ist unser Verhalten oft nicht von Vernunft oder Logik gesteuert, sondern von Emotionen. Wir sollten uns dessen bewusst sein, um so größtmöglichen Einfluss auf unser Wohlbefinden nehmen zu können. Gerade wenn es um Beziehungen geht, scheinen wir regelmäßig nicht selbst am Steuer zu sitzen, sondern als Beifahrer unserer Emotionen unterwegs zu sein. Oft ANTWORTEN wir nicht auf eine bestimmte Situation, sondern REAGIEREN.
Das ist ungefähr so als würde ich als Eishockey-Torwart Tennis spielen und die Bälle, die eigentlich ins Aus gingen, abfangen. Meine Logik und Vernunft sprechen dagegen, den Ball abzufangen, aber meine ‚einprogrammierte' Reaktion ist, den Ball trotzdem zu schnappen.
Mit etwas Übung kann es gelingen, die Reaktion, die zum sicheren Punktverlust führt, in etwas Positiveres zu verwandeln.
Ähnlich ist es mit Emotionen. Egal was gestern, vor einer Woche oder einem Jahr war, haben wir in jeder Situation immer wieder auf’s Neue zwei Möglichkeiten:
Wir REAGIEREN ähnlich automatisch wie Roboter auf positive oder negative 'Impulse' von außen oder...
wir versuchen die Kontrolle über unsere Emotionen zurückzugewinnen, um bewusster und überlegter auf das, was wir wahrnehmen, zu ANTWORTEN.
Aus Erfahrung weiß ich, wie schwer es manchmal sein kann, in einem Moment, in dem uns eine negative Emotion wie eine Ohrfeige trifft, cool und überlegt zu antworten. Manchmal reagieren wir auf eine Emotion und machen Dinge, die wir mit einem ‚kühlen Kopf’ nicht gemacht hätten, die uns später vielleicht sogar Leid tun. In solchen Situationen, oder meistens eher danach, könnten wir versuchen - wenn wir uns wieder beruhigt haben - das beste daraus zu machen und für das nächste Mal, etwas mitzunehmen.
Als meine Töchter noch kleiner waren, habe ich einen Karton mit Speiseeis aus dem Gefrierfach genommen und ihn über den Zaun zum Nachbarn geworfen, weil ein Kind nicht und nicht Zähneputzen wollte. Hätte mir jemand ein paar Stunden davor gesagt, dass ich das machen würde, hätte ich grinsend geantwortet: „Du bist ja verrückt!“ Tatsächlich ist die Situation nach längerem Hin und Her eskaliert und die Emotionen haben sich gegen die Vernunft durchgesetzt.
Da ich mit meiner Reaktion überhaupt nicht zufrieden gewesen war, habe ich im Nachhinein darüber nachgedacht, wo ich falsch abgebogen war, um beim nächsten Mal besser auf solche und ähnliche Situationen ANTWORTEN zu können. Tatsächlich habe ich das Gefühl, über die letzten Jahre aufgrund von gelegentlichen 'Ausrutschern' und der Arbeit an mir, langsam und Schritt-für-Schritt besser zu werden.
Die verbesserte Fähigkeit meine Gefühle in Stresssituationen zu regulieren, wirkt positiv auf meine Beziehungen und auch auf mein Wohlbefinden.
Indem negative Emotionen aufzeigen, was für uns nicht funktioniert, geben sie uns die Möglichkeit, uns - wenn wir das wollen - zu verbessern.
Klar, funktioniert das nicht immer - muss es aber auch nicht, denn wir werden immer wieder die Möglichkeit bekommen, an uns zu arbeiten und so immer besser zu werden.

Emotionaler Support: Von EVA und wie sie uns beruhigt...
Wie gesagt, können wir, müssen aber nicht jeder negativen Empfindung in den Dschungel der Gefühle folgen.
Sollten wir uns dennoch dafür entscheiden, uns ins Abenteuer zu stürzen, gibt es einen Guide, der uns dabei hilft, den richtigen Weg zu finden. Sie heißt EVA und ist jemand, der auftaucht und uns ihre sanfte Hand beruhigend auf die Schulter legt, wenn negative Gefühle wie Wogen hochgehen. Sie ist vom WISER-Prozess im Buch ‚The Good Life’ inspiriert und kann uns dabei helfen, Emotionen zu…
E wie erkennen,
V wie verstehen und darauf angemessen zu
A wie antworten.
E wie Erkennen
Die größte Herausforderung ist vermutlich, negative Emotionen ‚zuzulassen‘ ohne zu bewerten oder zu verurteilen. Stehen wir ihnen ablehnend gegenüber, versuchen wir sie zu minimalisieren oder zu rationalisieren, was eine natürliche Reaktion ist, können wir sie nicht so genau untersuchen wie es vielleicht notwendig wäre.
Eine negative Emotion kann ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass etwas nicht in Ordnung ist oder für uns nicht funktioniert - fast so wie ein Feueralarm in einem Haus. Brennt es wirklich oder handelt es sich um einen Fehlalarm?
Es mag zwar nicht immer möglich sein, aber es kann helfen, zusätzliche Informationen zu Umgebung und den beteiligten Personen zu sammeln, um ein vollständigeres Bild der Situation und den damit einhergehenden Emotionen zu bekommen. Meist ist der erste Eindruck einer Situation ziemlich stark, aber selten komplett.
V wie Verstehen
Wenn wir etwas fühlen, bedeutet das meistens, dass es um etwas für uns Wichtiges geht. Wäre das nicht der Fall, würden wir nichts oder weniger fühlen.
Wenn es gelingt, eine negative Emotion zuzulassen, können wir versuchen, ihre Fährte aufzunehmen. Was ist es, das hier so wichtig für uns zu sein scheint? Rückt ein Ziel oder gewünschter Zustand in die Ferne? Wurde einer unserer Werte oder eine für uns wichtige ‚Regel‘ verletzt? Was steht hier auf dem Spiel?
Wie Forscher betrachten wir nicht nur die Emotion unter dem Mikroskop, sondern können uns auch fragen, was sie ausgelöst hat. Wissenschaftler stellen üblicherweise mehrere Annahmen auf, die durch genauere Untersuchungen entweder bestätigt, korrigiert oder verworfen werden können - so entstehen Theorien.
Genauso könnte uns unsere gesunde Neugierde dabei helfen, die Korrektheit unserer Annahmen zu überprüfen. Hin und wieder - und das passiert mir regelmäßig - sind falsche Annahme der Ausgangspunkt für negative Emotionen und entsprechende Reaktionen. Es ist nur zu menschlich, Annahmen über das aufzustellen, was wir nicht kennen, wissen oder was uns fremd ist. Allerdings müssen sie nicht immer zutreffen. Die Frage „Was ist es, das ich hier annehme?“ kann helfen, möglicherweise falsche Annahmen zu enttarnen.
Es ist manchmal nicht ganz einfach, eine andere Person zu verstehen, denn jede(r) hat sein/ihr eigenes ‚Betriebssystem‘, das sich uns vielleicht nicht im ersten Moment komplett erschließt. Mit Betriebssystem ist das gemeint, was eine Person einzigartig macht. Das können Stärken, Schwächen, aber auch Eigenheiten sein. Und jede(r) versucht das Beste aus seinem System herauszuholen.
Mit ausreichend Information macht fast jedes Verhalten Sinn - egal, ob wir jetzt von den eigenen Kindern, Mönchen oder grausamen Diktatoren sprechen.
Das heißt natürlich nicht, dass auch jedes Verhalten in Ordnung ist. Ein direktes Gespräch mit den Betroffenen kann den gefährlichen Annahmen-Dschungel unserer Phantasie in ein beschauliches Wäldchen verwandeln.
A wie Antworten
Gelingt es dir immer, in einer emotional geladenen Situation cool und überlegt zu antworten? Warum uns das manchmal schwer fällt, kann damit zusammenhängen, dass wir sozusagen ‚zwei Gehirne‘ haben: Wir können uns zwei Zwerge in unserem Kopf vorstellen. Der eine ist unter anderem mit dem logischen und vernunft-basierten Denken, der andere mit dem Verarbeiten und Regulieren unserer Emotionen beauftragt.
Unser ‚Logik‘-Zwerg braucht relativ viel Nahrung (=Energie) und es fällt uns tendenziell auch schwerer ihn anzurufen (Stichwort Selbstdisziplin), er wird daher auch nur zu insgesamt 5-10 % der Zeit eingesetzt.
Den größten Teil unserer Entscheidungen hat der andere emotionalere Zwerg zu verantworten, der auch die Macht über einen wichtigen Überlebensmechanismus hat: Er regelt den Kampf-oder-Flucht-Modus. Wird eine Bedrohung - psychischer oder physischer Natur - wahrgenommen, schaltet dieser zweite Zwerg wie wild von ‚Normalbetrieb‘ auf Flucht oder Kampf, was mit gewissen chemischen Reaktionen im Körper einhergeht und dann auch zu impulsiven Reaktionen führen kann.
Vielleicht hören wir auch deswegen immer wieder den Rat, auf gewisse E-Mails nicht gleich zu antworten oder über wichtige Entscheidungen zu schlafen. Im Rausch der Emotionen scheinen wir das Wispern unseres ‚Sachbearbeiters für vernunft- und logikbasierte Entscheidungen‘ nicht zu hören.
Ich weiß, es ist nicht einfach, aber da Zeit ein wichtiger Faktor zu sein scheint, könnten wir versuchen, uns - wo möglich - etwas Zeit für einen möglichen Cool-down zu geben. Wenn die Emotionen zwischen mir und einem meiner Kinder hochgehen, gehen wir für einige Zeit in separate Zimmer, um zu zeichnen oder zu lesen. Sich räumlich zu trennen und auf andere Dinge zu konzentrieren wirkt oft wunder. Nach dieser Cool-down-Phase hat sich meist auch das emotionale Rumpelstilzchen im Kopf beruhigt und es fällt wieder leichter ‚normal‘ miteinander umzugehen.
Wie jemand auf welche Emotion reagiert, kann individuell ganz unterschiedlich sein, aber unser Verhalten ergibt sich im Allgemeinen aus unserer Biologie (damit ist auch das Erbgut gemeint), unserem Mindset und Umfeld. Je nachdem wie stark dieses Trio ist, können beispielsweise starke negative Emotionen besser oder weniger gut verdaut werden.
Ein gutes Beispiel sind Schlaf und Nahrung, die auch positiv auf unsere Biologie wirken können, indem sie uns belastbarer machen. Das Eis, das symbolisch für unsere Belastbarkeit steht, kann gefährlich dünn werden, wenn wir hungrig oder müde sind. Ähnlich positiv wie ausreichend Schlaf oder gute Nahrung können auch eine positive Einstellung und ein unterstützendes Umfeld (Stichwort gute soziale Beziehungen) sein. Anmerkung: Ich plane zumindest einen Blog-Post über das ‚Erfolgs-Trio', um darauf näher einzugehen.
Um eine passende Antwort auf eine emotional geladene Situation zu finden, kann es auch hilfreich sein, unseren ‚Logik-Zwerg‘ mit Fragen anzusprechen wie…
„Was will ich hier erreichen?“,
„Was wäre ein gutes Resultat?“,
„Wie kann ich es erreichen?“,
„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines guten Ausgangs, wenn ich so oder anders antworte?“,
„Welche Ressourcen habe ich zur Verfügung?“ und
„Wo liegen meine Stärken (z.B. Humor zum Entschärfen von gewissen Situationen) und Schwächen (z.B. schlecht mit Kritik umgehen zu können)?“

E-V-A kann uns helfen, mit emotional geladenen Situationen besser umzugehen, ABER wir sollten geduldig sein und freundlich mit uns selbst umgehen - „beware of negative self-talk!" Auch wenn es ein- oder mehrmals daneben gehen sollte, werden wir immer wieder Möglichkeiten bekommen, es das nächste Mal besser zu machen. Negative Emotionen, die im ersten Moment äußerst unangenehm sein können, können der Start zu neuen Höhenflügen sein.
Es gibt niemanden, dem immer alles gelingt. Keinen Golfer, der bei jedem Schlag ein Hole-in-one schafft. Keinen Basketballer, der bei jedem Wurf Punkte macht. Keinen Fußballer, der immer das Tor trifft. Die, die längerfristigen (persönlichen) Erfolg haben, scheinen einen Weg gefunden zu haben, mit ihren Fehlern und negativen Emotionen umzugehen, um so etwas Positiveres daraus zu machen. Oder in den Worten von Charles de Montesquieu „Glück ist nicht die Abwesenheit von Problemen, sondern die Fähigkeit mit ihnen umzugehen“. Und ich bilde mir ein, dass wir diese Fähigkeit trainieren können, indem wir negative Emotionen als Chance wahrnehmen - auch wenn es zunächst manchmal schmerzt.
Ich hoffe, dass auch dieses Mal etwas für dich dabei war - wenn ja, bitte sofort meinen Blog abonnieren, um keine Neuigkeit mehr zu verpassen.
Bis bald,
Matthias
PS: Heute (persönlicher Feiertag) bin ich zum 400. Mal um 5 Uhr aufgestanden, um an für mich (und hoffentlich auch für dich) interessanten Themen zu arbeiten…
6. Quellen:
Goleman, Daniel. 2007. Emotional Intelligence. 10th ed. New York, NY: Bantam Books.
Laigneau, Pauline, Gastgeberin, "#254 - Serge Marquis, spécialiste de santé mentale: Comment arrêter de se comparer?", https://podcasts.apple.com/at/podcast/le-podcast-de-pauline-laigneau/id1350242252?i=1000651729753.
Southwick, Steven M., and Charney, Dennis S.. 2012. Resilience : The Science of Mastering Life's Greatest Challenges. Cambridge: Cambridge University Press. Accessed April 9, 2024. ProQuest Ebook Central.
Stachowiak Dave, Gastgeber, "How to Change People's Minds, with Michael McQueen", https://podcasts.apple.com/at/podcast/coaching-for-leaders/id458827716?i=1000652442203.
Waldinger, R. & Schulz, M. 2023. The Good Life - Lessons from the World's Longest Scientific Study of Happiness. New York: Simon & Schuster.
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